Clemson gehört eigentlich nicht zu den traditionellen Blaublütern im College Football. Zwar stellen die Tigers ein liebliches Team aus dem tiefen US-Süden im Bundesstaat South Carolina mit einem monumentalen Heimstadion und prägnanten Traditionen. Sportlich war Clemson in über 100 Jahren Footballgeschichte jedoch eher ein Team aus der “zweiten Reihe”: Oft gut, aber bis auf den National Title 1981 nie wirklich Spitzenklasse.
Das Schlagwort “Clemsoning” galt lange Jahre als Synonym für Verlieren, wenn es drauf ankommt. Erst seit der mehr oder weniger zufälligen Amtsübernahme von Head Coach Dabo Swinney mitten in der Saison 2008 hat Clemson den Sprung zu den Elite-Programmen geschafft. Swinney wurde damals intern befördert und galt nur als interimistische Notlösung für den gefeuerten Tommy Bowden. Der war als Sohn des legendären FSU-Coaches Bobby Bowden kein unbeschriebenes Blatt gewesen.
Der Umschwung unter Dabo Swinney
Doch auch Swinney brauchte ein paar Jahre, ehe er Clemson aus dem sehr guten Mittelmaß hoch geführt hatte in die absolute Elite des College Football. Schauen wir uns die Entwicklung des Programms im SP+ Effizienz-Ranking an, so sehen wir, dass Swinney nicht sofort den absoluten Durchbruch schaffte:

Swinneys Erfolgsrezepte sind simpel, aber effektiv: Fokus auf das Recruiting, Detailversessenheit und sehr gut gewählte und hochbezahlte Assistenzcoaches. Swinney verlor in der Anfangszeit seiner Regentschaft in Clemson mehrere Coordinators, doch die aktuellen Offensive (Tony Elliott, 6. Saison) und Defensive Coordinators (Brent Venables, 9. Saison) sind langjährige Stützen des Programms.
Freilich gibt es noch einen anderen wesentlichen Grund dafür, dass Clemson sich nun schon so lange sehr weit oben hält: Sie hatten zuletzt einen wahnwitzigen Erfolgslauf mit ihren Quarterbacks. Schon Tajh Boyd (2011-2013) war ein sehr guter, doch unter den letzten Stamm-Quarterbacks waren ein Deshaun Watson (2014-2016) und ein Trevor Lawrence (seit 2018). Viel besser geht es nicht.
Mit solchen Quarterbacks upgradet man von “Titelfavorit” auf “Dynastie”. Dabo Swinneys Clemson hat das geschafft. 2015 scheiterte man noch knapp in einem atemberaubenden Shootout gegen Alabama, doch ein Jahr später war das Biest endlich besiegt. 2018 gewann Clemson den zweiten Titel in einem Kantersieg im vierten Playoff-Treff mit Alabama en suite. Letztes Jahr kam man ungeschlagen ins Endspiel, ehe man gegen die epische LSU-Offense mit Joe Burrow, Ja’Marr Chase und Justin Jefferson klein beigeben musste. Jetzt ist Clemson aber wieder einer der Top-Titelanwärter.
Es folgt: Jans “in-Depth” Analyse der Clemson Tigers 2020.
Recruiting und Spielerentwicklung
Mittlerweile gehört Clemson zu denjenigen Teams, die in den gängigen Recruiting-Listen am besten abschneiden. Doch mussten Swinney und Co. sich diesen Status erst erarbeiten, da das Programm wie gesagt nicht zu den prestigeträchtigsten zählte. Dies gelang mit einer absurd guten Spielerentwicklung. Die Mehrzahl der Jahre unter Swinney stellten die Tigers keine der besten 10 Recruiting-Klassen, aber 1) feierte man im College große Erfolge und schickte 2) viele Spieler in die NFL. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dennoch jagen die Tigers weiterhin nicht jedem hochgerankten Recruit hinterher, sondern haben darüber hinaus spezielle Vorstellungen bei weniger gehypten Spielern. So sind etwa die diesjährigen Draftpicks Isaiah Simmons, K’Von Wallace und Tanner Muse allesamt “nur” 3-star Recruits gewesen. Für mich steht fest: Kein Coaching-Staff entwickelt Talent für die NFL aktuell so gut wie Clemson.
Clemson Offense
In der vergangenen Saison rangierte Clemsons Offense nach den Metriken von SP+ auf dem sechsten Platz aller FBS-Teams, nach Punkten mit 43.9 pro Spiel sogar auf Rang 4. Damit verpasste man den ein Jahr zuvor aufgestellten Teamrekord von durchschnittlich 44.3 Punkten nur knapp. Diese Offense konnte guten Gewissens als Superstar-Offense bezeichnet werden. Im Grunde genommen lief sie über vier Spieler: QB Trevor Lawrence, RB Travis Etienne und die beiden WR Tee Higgins und Justyn Ross. Dabei konnten sich HC Dabo Swinney und seine beiden Co-OCs Jeff Scott und Tony Elliott insbesondere auf die gewonnenen Eins-gegen-Eins-Duelle der beiden Receiver an der Seitenlinie sowie downfield verlassen. Lawrence, Higgins und Ross spielten beeindruckend Pitch&Catch, und kaum ein Gegner hatte darauf eine Antwort.
Abgänge
Doch nun wird die Offense ein anderes Gesicht bekommen müssen: Lawrence und Etienne sind weiterhin dabei, aber die beiden Top-Receiver fehlen. Tee Higgins spielt nun bei den Cincinnati Bengals, die ihn Anfang der zweiten Runde drafteten. Bei Justyn Ross wurde eine angeborene Wirbelverengung diagnostiziert. Er fällt mindestens für diese Saison aus, darüber hinausgehende Prognosen gibt es derzeit noch nicht. Weitere Abgänge gibt es in der Offense Line zu beklagen, die gleich vier der fünf Starter ersetzen muss – unter anderem John Simpson (4th round pick der Raiders) und Tremayne Anchrum (7th round pick der Rams). Immerhin blieb der beste Liner, der massige LT Jackson Carman, den Tigers erhalten.
Im Coaching-Staff gibt es ebenfalls einen Wechsel: Co-OC Jeff Scott ist nun der neue Head Coach von South Florida. Aber mit Swinney und dem zweiten OC Elliott sollte größtmögliche Kontinuität gewahrt sein.
Offensive Veränderungen?
Es ist allerdings zu erwarten, dass die Offense auch schematisch ein anderes Gesicht haben wird. QB Lawrence konnte sich auf die überlegene Physis, Athletik und Contested-Catch-Skills von Higgins und Ross verlassen. Ab und an wurde Ross in den Slot gestellt, um seine Größe noch besser ausspielen zu können. Letztlich brauchte es im Passspiel aber keine besonders abgefahrenen Konzepte um dominant zu sein. Das dürfte sich in der kommenden Saison ändern, da die Outside Receiver zwar talentiert, aber noch jung und relativ unerfahren sind. Swinney und Elliott müssen das Passspiel auf mehr Schultern verteilen und schematisch möglicherweise etwas diverser gestalten. Der erfahrene Slot-WR Amari Rodgers dürfte etwas mehr eingebunden werden. Und vielleicht entdecken die Tigers ja auch mal wieder die Position des Tight Ends für sich. Der athletische Braden Galloway, der 2019 gesperrt war und erst in den Playoffs wieder auflaufen durfte, wäre eine mögliche Option.
Grundsätzlich spielt Clemson eine College-typische Spread Offense mit einigen RPO-Elementen. In der vergangenen Saison öffnete man zudem das Laufspiel ein wenig, indem mehr Zone Read Runs von Lawrence eingestreut wurden. Darauf hatte man in seiner Freshman-Saison noch größtenteils verzichtet. Lawrence erzielte über 500 Yards – dabei sind wohlgemerkt schon Sacks eingerechnet, die im College Football als negative Läufe des Quarterbacks gelten – und verlieh der Offense damit eine weitere Dimension. Im Halbfinale gegen Ohio State erwiesen sich seine Läufe (unter anderem der hier) letztlich als Schlüssel zum Sieg.
Natürlich ist abzuwarten, wie gut und wie schnell sich die völlig neuformierte O-Line einspielen wird. Doch in den vergangenen Jahren war hier die Summe mehr als die Einzelteile. Clemson verfügte nicht unbedingt immer über herausragende Draft-Prospects in der Line, doch das Gesamtkunstwerk funktionierte – gerade im Passblock.
Trevor Lawrence
Natürlich führt bei einer Clemson Preview kein Weg an Superstar-Quarterback Trevor Lawrence vorbei. Bereits zu Highschool-Zeiten galt er als eines der größten Talente überhaupt. Bereits in seiner true Freshman-Saison 2018 verzauberte er die College-Welt, als er die Tigers zum Titel führte und im Finale die gefürchtete Defense Alabamas auseinandernahm. Danach stieg der Hype um ihn als womöglich bester Quarterback-Prospect seit anno dazumal in absurde Sphären. Davon konnte sich auch Lawrence nicht ganz freimachen. Sein Saisonstart 2019 verlief etwas holprig, möglicherweise wollte er zu viel erzwingen. Doch es dauerte nicht lange, bis er wieder zu gewohnter Form auflief.
Lawrence gilt weiterhin als der Topfavorit auf den #1 Pick in der nächsten Draft. Ich beschäftige mich ja schon mehrere Jahrzehnte intensiv mit der Draft, aber kann mich an keinen so runden Quarterback-Prospect erinnern. Andrew Luck käme dem wohl am nächsten. Lawrence wirkt, als hätte man einen Quarterback künstlich im Labor erschaffen: Riesige Statur mit guter Physis, für einen solchen Brocken überraschend athletisch und mit einem fantastischen Arm ausgestattet. Sein Pocket Movement ist vielleicht nicht so spektakulär wie das eines Joe Burrow, aber sehr effizient. Er ist technisch ziemlich ausgereift, was sowohl seine Fußarbeit als auch seine Wurfbewegung betrifft. Seine Toughness in der Pocket ist beeindruckend, oft wird er den Ball gerade noch los, bevor es bei ihm einschlägt.
Exemplarische Plays
Nehmen wir dieses Play auf Higgins aus dem National Championship Game gegen Alabama. Er weiß, dass er den Hit einstecken wird und wirft den Ball gefühlvoll über den underneath Zone Defender zentimetergenau in eine recht enge Coverage.
Dabei hilft ihm sein gutes Decision Making und die sehr schnelle Ausholbewegung. Seine Passgenauigkeit ist auf hohem Niveau (wenngleich er in einigen Spielen minimale Schwächen beim Platzieren von tiefen Bällen offenbarte). Er kann Plays außerhalb der Pocket kreieren und wird sehr genaue Pässe aus dem Lauf, ohne die Füße richtig zu setzen oder sogar “against the grain”. Beispiel gefällig?
Und nur weil Lawrence aufgrund seiner dominanten Perimeter-Receiver weniger über die Feldmitte passen muss, bedeutet nicht, dass er das nicht kann. Hier zimmert er den Ball zentimetergenau in ein sich schnell schließendes Fenster.
Es ist generell ein gutes Zeichen, wenn alles spielend leicht aussieht. Hier demonstriert er erneut seine fantastische Armstärke und Genauigkeit – und das aus der Bewegung in der Pocket heraus.
Doch genug davon, sonst wird das hier ein Scouting Report. Lawrence wird in der kommenden Saison voraussichtlich gefordert sein, etwas regelmäßiger durch seine Progressions zu gehen und den freien Receiver oder das aktuell günstige Matchup zu finden. Dazu kommt natürlich noch seine Tätigkeit als prominenter Gewerschafter. Derweil können wir uns schon einmal an die Zungenbrecher-Namen der beiden Backup-Quarterbacks gewöhnen, die sich dann wahrscheinlich 2021 um den Starterposten duellieren werden: Taisun Phommachanh und DJ Uiagalelei. Insbesondere letzterer gilt als Megatalent mit einem ebensolchen Arm, der die Reihe der Clemson-Quarterbacks fortsetzen könnte.
Schlüsselspieler: Skill Positions
Es ist eine kleine Sensation, dass ich diesen Abschnitt tatsächlich mit RB Travis Etienne beginnen darf. Wirklich alle hatten erwartet, dass sich der schnelle und enorm explosive Runner nach drei extrem erfolgreichen und produktiven Saisons zur Draft melden würde, zumal er in der vergangenen Saison auch noch deutliche Fortschritte als Receiver machte. Wieviel Sinn diese Entscheidung macht, ist schwer zu beurteilen. Es ist allerdings auffällig, dass sich solche Fälle bei Clemson häufen – in jüngerer Zeit unter anderem Christian Wilkins und Clelin Ferrell. Selbst ein Isaiah Simmons blieb vier Saisons, wenngleich ihm die erste als Redshirt-Jahr angerechnet wurde. So unangenehm einige politische Einstellungen von Dabo Swinney sein mögen: Er scheint eine Atmosphäre kreiert zu haben, die die Spieler zu schätzen wissen. Dennoch ist die Entscheidung gerade für einen Running Back noch einmal schwerer nachzuvollziehen.
Für Clemson ist Etiennes Verbleib natürlich ein enormer Gewinn. Etienne erzielte 7.8 Yards pro Lauf, was sogar ein leichter Rückschritt zu 2018 war. Kein Wunder, dass die Offense trotz Lawrence nicht zu einem reinen Passfeuerwerk ausartet. Etiennes ist mit seiner enormen Beschleunigung bei jedem Spielzug für ein Big Play gut. Dazu hat er enorme Verbesserungen im Inside Running gemacht. Es ist aber zu vermuten, dass man seinen ebenfalls effektiven Backup Lyn-J Dixon etwas mehr einbinden wird. Zu viele Carries sollte Etienne in seinem vierten Jahr wirklich nicht bekommen.
Ein neues Receiving Corps
Wie bereits erwähnt besteht das größte Fragezeichen bei den Outside Receivers. Doch glücklicherweise kann Swinney hier auf zwei hohe Recruits zurückgreifen, die 2019 schon ein wenig Erfahrung sammeln konnten: Joseph Ngata und Frank Ladson. Beide sind großgewachsene Spieler mit einem guten Catch Radius. Ngata ist kräftiger gebaut, verfügt dabei über erstaunlich geschmeidige Moves, exzellenten Hände und hat immerhin einen build-up Speed. Ladson ist etwas schmaler und hat seine Stärken eventuell eher im vertikalen Bereich. Auf dem Papier könnten sie die Rollen von Higgins und Ross übernehmen. Aber sind sie schon so weit? Ein noch jüngerer Kandidat wäre der aktuelle 4-star Freshman E.J. Williams, mit einer Größe von 6’4 ebenfalls ein beachtliches Target, dazu mit Basketball-Hintergrund.
So oder so wird Amari Rodgers wieder eine prominentere Rolle übernehmen. Vergangene Saison laborierte er zunächst noch unter den Nachwirkungen eines Kreuzbandrisses und kam erst gegen Ende wieder in Schwung. Rodgers ist ein kleiner, sehr kräftiger Slot-Receiver mit starken Fähigkeiten nach dem Catch. Würde mich nicht wundern, wenn die Tigers ihn vermehrt mit Endarounds, Jet Sweeps oder WR Screens füttern.
Insgesamt bestehen in der Clemson Offense mehr Fragezeichen als im vergangenen Jahr. Mit Lawrence und Etienne im Backfield sollte aber niemandem Bange sein.
Clemson Defense
Wer nach den Abgängen der kompletten D-Line um Clelin Ferrell, Christian Wilkins und Dexter Lawrence mit einem deutlichen Abfall der Defense gerechnet hatte, sah sich zumindest statistisch getäuscht. Die Truppe von DC Brent Venables schnitt nach SP+ ebenso wie nach zugelassenen Punkten (13.5 pro Spiel) als drittbeste Defense des Landes ab. Allerdings verschob sich der Fokus mehr auf die Passverteidigung. Man agierte häufiger in Nickel- und Dime-Formationen und setzte vermehrt auf eine 3-man Front.
Abgänge
Für das kommende Jahr müssen nun die Schlüsselspieler dieser Defense ersetzt werden. Allen voran natürlich der fantastische LB/S Isaiah Simmons, der an #8 overall von den Cardinals gepickt wurde. Simmons spielte in dieser Defense fast jede Position und war der entscheidende Baustein für Venables’ neues Scheme. Sein Verlust kann kaum kompensiert werden.
Doch damit nicht genug. Die Secondary wurde ziemlich gerupft: Auch CB A.J. Terrell (1st round pick der Falcons), S Tanner Muse (3rd round pick der Raiders) und Slot-S K’Von Wallace (4th round pick der Eagles) versuchen sich nun in der NFL.
Darüber hinaus fällt der talentierteste Passrusher für diese Saison aus. DE Xavier Thomas muss sich von den Folgen seiner Corona-Infektion erholen. Er spielte eine großartige Freshman-Saison 2018, konnte die hohen Erwartungen letztes Jahr aber nicht erfüllen. Dennoch setzte ich große Hoffnungen auf ihn.
Es besteht also insgesamt viel Arbeit für Venables, soll seine Defense das Niveau der letzten Jahre halten. Doch worin liegt eigentlich sein Geheimnis?
Defense Scheme: Variabilität und Disguises
Ich sage es vorweg: Für mich ist Brent Venables aktuell der beste und kreativste Kopf unter den defensiven Coaches. Seit Jahren stellt er eine der besten Verteidigungen, obwohl ihm lange Zeit das Talent von beispielsweise Alabama abging. Er hat es geschafft, seine Schemes immer wieder neu auszurichten und an die Stärken des Teams anzupassen.
Das erste Motto lautet fehlende Ausrechenbarkeit: Venables kommt ursprünglich aus einem Coaching-Tree, der viel Cover-4 spielen ließ. Das hat er im Laufe der Jahre angepasst und modifiziert. Heute spielt die Defense in etwa zu gleichen Anteilen Cover-1, Cover-3 und Cover-4, wobei Cover-3 meist die Basis-Coverage darstellt. Die Pre-Snap-Aufstellung beinhaltet aber oftmals zunächst zwei tiefe Safeties, was dem Quarterback das Lesen der Coverage erschwert.
Positions- und schematische Variabilität
Doch geht die Variabilität über die reinen Coverage-Konzepte weit hinaus. Venables präferiert Defense-Spieler, die unterschiedliche Positionen spielen können, so dass er sie vor dem Snap und vor allem nach dem Snap hin- und herschieben kann. Besonders beliebt sind Hybride zwischen Linebacker und Safety, weil so der eine überraschend die Position des anderen übernehmen kann. Wenn der Quarterback also erwartet, dass durch einen blitzenden Safety eine tiefe Lücke entsteht, kann die schon längst vom Linebacker gestopft worden sein. Voraussetzung für solche Positionswechsel sind sehr athletische Linebacker mit Stärken in der Coverage. Isaiah Simmons ist natürlich das Paradebeispiel, davor gab es aber etwa einen Dorian O’Daniel (aktuell bei den Chiefs). Auf der anderen Seite ist ein Safety wie Tanner Muse fast genauso groß und schwer wie die Linebacker und kann sie in oder nahe der Box ersetzen. Dadurch ergeben sich Dutzende Optionen, die gegnerische Offense im Unklaren zu lassen. Diese Defense war derart eingespielt, dass sie kaum einmal einen längeren Pass abgab.
Venables größte Stärke sind kreative Coverage Disguises, mit denen er selbst absolute Top-Quarterbacks reihenweise zu Fehlern zwingt. Er legt regelmäßig sogenannte Honey Pots aus, also vermeintlich günstige Situationen oder Matchups für den gegnerischen Quarterback, die sich aber dann als eine ganz andere Coverage erweisen. Oftmals bringt er die in Verbindung mit Blitzes, was dazu führt, dass der Quarterback schnell reagieren muss und sich stärker auf die Pre-Snap-Eindrücke verlässt. Hierbei kann Venables eben zentral auf die Variabilität seiner “erweiterten” Secondary bauen.
Beispiel 1
Ich werde seine Defense en detail noch einmal während der Saison beleuchten. Für einen ersten groben Eindruck präsentiere ich euch zwei Beispiele. Das erste stammt aus besagtem National Championship Game gegen Alabama, der Pick-6 von A.J. Terrell gegen Tua Tagovailoa:
Venables callt hier eine Trap Coverage, der Tagovailoa auf den Leim geht. Die Defensive Backs der Tigers deuten erst Man Coverage an. Terrell (#8) steht in Press gegen WR DeVonta Smith (#6), geht dann pre-Snap ein paar Schritte zurück in Off Coverage. Im Slot steht Isaiah Simmons (#11) gegen WR Jerry Jeudy (#4) – wie gesagt, mit Simmons kann man so etwas machen. Simmons blitzt aber mit dem Snap. Tagovailoa erkennt die vermeintliche freie Out Route von Jeudy, zu der der tiefer positionierte Safety K’Von Wallace (#12) niemals rechtzeitig hinkommen kann. Doch rechnet er nicht mit der Trap. Terrell spekuliert auf genau diesen Pass, verlässt seinen Gegenspieler Smith und cuttet vor Jeudy. Wallace orientiert sich dagegen als Absicherung hinter Smith (und Jeudy). Dabei bewegt sich zunächst sogar noch nach vorne, um den Disguise möglichst lange aufrechtzuerhalten. Nicht im Bild ist der single-high Free Safety, der die tiefe Absicherung auf der Seite darstellt. Perfekt gespielt.
Beispiel 2
Das zweite exemplarische Play stammt aus dem Fiesta Bowl gegen Ohio State:
Die Tigers spielen mit Simmons (#11) als single-high Safety, vor ihm stehen zwei weitere Safeties. Die Cornerbacks stehen in Press. Aufgrund ihrer Positionierung rechnet Buckeyes QB Justin Fields wohl mit einer Cover-3. Also: Beide Cornerbacks decken auf ihrer Seite das tiefe Drittel des Feldes und Simmons das mittlere Drittel. Mit dem Snap blitzt der Boundary CB Terrell (#8, unterer Bildrand). Der auf seiner Seite positionierte S Tanner Muse (#19) orientiert sich zum Receiver. Fields wittert eine leichte Completion, doch die Coverage ist eine andere als erwartet. Venables spielt mit dem Blitz eine Cover-2. Simmons deckt die eine Hälfte des Feldes, der rechts unter ihm positionierte dritte Safety Nolan Turner (#24) die andere. Simmons kann es sich sogar erlauben, sich pre-Snap mehr Richtung Field-Seite zu orientieren, weil seine Range so absurd groß ist. So verkauft er den single-high Safety Look auch noch besser.
Dazu zeigt sich Venables höchst anpassungsfähig. 2019 mangelte es in der D-Line merklich an Passrush, und die Defensive Tackles ließen sich zu leicht umherschieben. Daher baute er seine Defense um und ließ vermehrt 3-2-6 Dime-Formationen spielen. Darüber hinaus übernahm er Elemente der 3-3-5 Defense mit drei tiefen Safeties, wie sie unter anderem Iowa State spielen lässt. Zum einen hat man damit mehr Athleten auf dem Platz, die die Löcher in der Defense stopfen können. Zum anderen lassen sich damit kreative Cover-3 Konzepte ebenso spielen wie eine “inverted Tampa-2”, nur dass sich hier der mittlere Safety eben nach vorne orientiert (statt des Middle Linebackers nach hinten). Hier habe ich diese Defense-Strategie etwas ausführlicher beschrieben.
Solche und ähnliche schematischen Spezialitäten finden sich in jedem (wichtigen) Spiel. Was erwartet uns dann also dieses Jahr?
Schlüsselspieler: Defense
Aufgrund der vielen Abgänge in der Secondary ist zu erwarten, dass Venables wieder vermehrt auf Base 4-man Fronts und in Passsituationen auf seine bewährte 3-2-6 Dime setzt. Ohne die ganze Starting-Unit en detail durchzugehen, stelle ich euch einige wichtige Spieler für den Erfolg der Saison durch. Ein weiterer Fokus wird auf den jungen Talenten liegen, die womöglich nachrücken und größere Rollen übernehmen müssen.
Gesucht: Konstanter Passrush
Um wieder auf die 4-man Front umzustellen, muss die D-Line zur gewohnten Stärke zurückfinden. Gerade bei den Defensive Tackles sieht die Situation eigentlich gar nicht so übel aus. DT Tyler Davis war die Entdeckung der vergangenen Saison. Als true Freshman spielte er sich in der Startformation fest und sorgte für die meisten Sacks (6.5) nach Simmons. Davis ist nicht besonders groß, aber mit exzellenter Quickness ausgestattet. Seine natürliche Leverage zeigt sich insbesondere gegen double Teams, der er überraschend häufig bezwingen konnte. Hinzu kommt eine aktive Handarbeit, durch die er sich schwer fixieren lässt. Knüpft Davis an seine 2019er Saison an, reden wir von einem kommenden Star. Neben Davis wird der erfahrene Nyles Pinckney spielen. Viele warten schon jetzt auf Bryan Bresee, den an #1 gerankten Highschool-Spieler des vergangenen Recruiting-Jahres. Ein sehr spezielles Talent.
Clemson benötigt vor allem dringend mehr Passrush von außen. Senior DE Justin Foster ist ein kräftiger Edgesetter mit Power und Motor, doch auch hier ruhen die Hoffnungen auf einem true Freshman. 5-star Myles Murphy war als bester Defensive End aus der Highschool (und Top 10 overall) gerankt und machte einen starken Eindruck im Fall Camp. Murphy ist ebenfalls groß und schwer, bringt dazu aber noch eine exzellente Athletik und starke Beweglichkeit in Knöcheln und Hüften für den so genannten Bend mit. Schlagen die jungen Toptalente ein, hat Venables eine große Sorge weniger.
Gesucht: Der Simmons-Ersatz
Es wäre eine faustdicke Überraschung, wenn Isaiah Simmons wirklich ersetzt werden könnte. Schauen wir uns daher lieber einmal an, wer seine Position und Aufgaben am ehesten übernehmen soll. Hier fällt die erste Wahl wohl auf Mike Jones, der 2019 als Role-Player ein paar gute Momente hatte. Venables hob ihn mehrfach in den letzten Wochen positiv hervor. Wir werden abwarten, wieviel da dran ist. Perspektivisch wird von Top-Recruit LB Trenton Simpson erwartet, diese extreme Hybrid-Rolle zwischen Passrush, Off-Ball und Secondary irgendwann einmal zu übernehmen. Simpson ist lang, athletisch und sehr vielseitig einsetzbar. Also, von Simmons zu Simpson? Allerdings sollte man nicht den Fehler begehen, zu schnell zu viel von true Freshmen zu erwarten.
Immerhin ist James Skalski als verlässlicher, wenngleich meist unspektakulärer Middle Linebacker zurück. Skalski ist vor allem für das gegnerische Inside Running zuständig, doch schickt Venables ihn je nach Situation auch gerne mal auf A-Gap Blitzes. Beispielhaft zu sehen im National Championship Game gegen LSU – bis zu seiner Ejection.
Eine neue Secondary
In der Secondary ruhen die Hoffnungen naturgemäß auf dem einzigen regulären Starter, der zurückkehrt: CB Derion Kendrick. Kendrick ist ein konvertierter Receiver, der die feineren Nuancen des Cornerback-Spiels noch verinnerlichen muss. Er bringt jedoch dank seiner Athletik und Ball-Skills hervorragende Anlagen mit. Kendrick wird nun voraussichtlich oftmals auf den gegnerischen #1 Receiver angesetzt werden. Venables und sein Cornerback-Coach Mike Reed sind dafür bekannt, ihre Spieler im technischen Bereich und in der Scheme-Variabilität nachhaltig zu verbessern.
Auch hier könnten einige jüngere Kandidaten Spielzeit sehen. Für mich ist hier zunächst der 5-star Sophomore CB Andrew Booth zu nennen: langer, wendiger und physisch überraschend starker Corner, der sich zu einem Komplettpaket entwickeln könnte. Großen Eindruck hat zudem true Freshman Malcolm Greene hinterlassen, der als Safety gesignt wurde, nun jedoch als Cornerback und Nickel-Defender vorgesehen ist. Im Slot braucht es dringend Ersatz für K’Von Wallace, aber ob Greene schon so weit ist?
Bei den Safeties ist die Situation ähnlich unklar. Nolan Turner, Held des Fiesta Bowls gegen Ohio State, ist zurück und wird voraussichtlich viel Centerfield spielen. Wir werden in den kommenden Wochen sehen, wer sich auf Cornerback und Safety als Starter herausschält. Dies wird Teil des bereits angesprochenen Beitrags sein, der Venables’ Defense unter die Lupe nimmt.
Fazit: Der nächste Anlauf
Das Talentlevel der Tigers in Offense und Defense ist weiterhin enorm hoch. Allerdings gibt es im Gegensatz zu den vergangenen Jahren größere Unklarheiten und damit potenzielle Lücken in einigen Mannschaftsteilen. Doch machen wir uns nichts vor: Clemson ist dank des exzellenten Coachings von Swinney und Venables, dem Top-Quarterback Trevor Lawrence, einem der besten Big Play-Runner mit Etienne und einer talentreichen Defense der glasklare Favorit in der ACC. Ein Verpassen der Playoffs wäre eine herbe Enttäuschung.