Wir, Thomas und Florian, haben uns wie schon letzte Woche, als wir 4th Downs analysiert haben, zwei spannende NFL-Spielsituationen herausgesucht.
Thomas blickt auf das Ende des Spiels Lions @ Falcons, bei dem RB Todd Gurley durch seinen zweiten Touchdown die Falcons auf die Verliererstraße brachte. Florian analysiert den Gameplan der Titans im Topspiel gegen die Steelers.
Gurley läuft ins Verderben
Es ist schon jetzt eines der ikonischen Bilder der NFL-Saison 2020: Todd Gurley, der Scorer des Touchdowns, liegt am Boden, während vier Lions-Verteidiger im direkten Umfeld aufgeregt den Touchdown signalisieren. Verkehrte Welt?
Mitnichten. Den Touchdown zuzulassen war die mit großem Abstand beste Chance für die Detroit Lions, das Auswärtsspiel in Atlanta zu gewinnen. Let us explain.
Die Spielsituation
Die Detroit Lions führten in der Schlussphase mit 16-14 gegen die Atlanta Falcons. Die erreichten eineinhalb Minuten vor Schluss mit einem 1st-Down-Pass von QB Matt Ryan für WR Russell Gage die Schwelle zur Red-Zone und begannen danach, mit trockenem Laufspiel die Uhr zu melken, um möglichst spät im Spiel mit einem Field Goal auf 17-16 zu stellen und den Lions keine Chance mehr zum Kontern zu geben.
Detroit begann sofort, seine Timeouts zu ziehen. Die Denke der Lions war simpel: Ein weiteres 1st Down unbedingt verhindern, und dann mit etwa einer Minute auf der Uhr den Ball mit einem Punkt Rückstand zurückzubekommen und über QB Matthew Stafford einen Comeback-Versuch zu starten. Der Plan ging nicht auf, denn Atlanta schaffte mit 1:12 Minuten auf der Uhr tatsächlich das 1st Down durch einen Gurley-Lauf an die 10 Yards Line. Dass Gurley dabei den Ball fast gefumbelt hätte, ist mittlerweile vergessen und im Nachhinein belanglos. Wichtig aber war: Die Lions mussten damit ihr letztes Timeout ziehen und hatten keine Chance mehr, aus eigener Kraft die Uhr anzuhalten.
Atlanta dagegen konnte sich mit dem 1st Down im Sack sehr sicher fühlen: Die Falcons kontrollierten nun die Uhr und waren in sehr sicherer Fieldgoal-Reichweite. Ein Field Goal von der 10 Yards Line ist etwa 28 Yards lang und hat in der NFL in den letzten zehn Jahren eine Trefferquote von locker 95%. Analytics-Pionier Brian Burke taufte diese Zone wenige Yards vor der Endzone einst “Choke Hold”-Territorium. Ein fehlerhafter Snap oder ein Butterfinger beim Holder (Tony Romo, looking @ you) sind quasi die einzigen Gründe für einen Fehlkick.
Die Optionen der Offense
Die Falcons mussten also in dieser Situation nur noch wenige Dinge beachten: Sie durften den Ball nicht fumbeln, sie sollten ein Offensive-Holding mit 10 Yards Raumstrafe vermeiden. Und sie sollten keinen schnellen Touchdown erzielen. Denn der bedeutete zwar die Führung, aber auch den Wechsel des Ballrechts zum Gegner mit maximal sechs Punkten Führung (Touchdown plus Two-Points Conversion).
Die Rechnung an dieser Stelle ist für die Offense also ziemlich simpel:
- Sicherer Lauf/Abknien und Field Goal von der 10 Yards Line in letzter Sekunde = 95% Sieg
- Sicherer Lauf/Abknien und Field Goal von der 1-5 Yards Line in letzter Sekunde = 99% Sieg
- Schneller Touchdown = Führung mit 4 bis 6 Punkten, aber Ballübergabe an den Gegner mit Chance zum Konter.
Gurley übernahm mit 1:12 Minuten auf der Uhr im 1st Down also erneut den Ball, kam locker durch die Defensive Line, rannte in LB Jamie Collins hinein, der erst zugriff, sich leicht abdrehte und dann plötzlich ausließ. Gurley, im Fallen das Unheil realisierend, torkelte wie ein Betrunkener zur Seite im Versuch, das Momentum zu stoppen, doch es war zu spät: Der Ball hatte die Goal-Line schon überquert. Touchdown mit 1:04 Minuten auf der Uhr.
Die Folgen in diesem NFL-Spiel
Dass die Falcons die Two-Point Conversion zum 22-16 Vorsprung verwerteten, ist fast belanglos, denn aus einem 95% bis 99%igen Sieg wurde im Moment des Touchdowns plötzlich eine Zitterpartie. Denn eine durchschnittliche Offense ist in der heutigen NFL auch ohne Timeouts in der Lage, innerhalb von einer Minute der Feld hinunterzumarschieren und mit einem weiteren Touchdown zu kontern. Die Chancen hierzu schätzt man auf 15% bis 20% – doch gegen die desolate Falcons-Defense können wir ruhig einen Faktor größer 1 drauflegen. Sind es 30%? Oder 40%?
It doesn’t matter all that much, denn Punkt ist: Jede Situation war für Detroit besser als ein Falcons-Fieldgoal mit auslaufender Uhr, und daher war die einzige reelle Chance für Detroit in diesem Spiel doch noch zu gewinnen, Todd Gurley zum Touchdown durchzulassen. Es erhöhte die Siegchance der Lions von 1-5% auf mindestens 15%, vielleicht 20%, vielleicht die Qualität der Defense mit einberechnend auf 30-40%.
Diese eigentlich simple Erklärung ist in Umsetzung gar nicht so gängig. Erst vor etwa neun Jahren gab es am Ende der Super Bowl XLVI Patriots gegen Giants eine fast identische Situation, als Bill Belichick (und sein Quasi-Defensive Coordinator Matt Patricia, im Übrigen) einen intentionalen Touchdown gegen die Giants und ihren RB Ahmad Bradshaw zuließen. Das sorgte damals noch für aufgeregte NFL-weite Diskussionen.
Im Laufe der Jahre wurden Defensive-Playcaller smarter und luden die Offense immer mal wieder subtil zum Scoren ein. Doch auch Offenses zogen nach – und gerade Gurley selbst sorgte mit einem Abknien kurz vor der Goal-Line vor zwei Jahren gegen die Packers für einen aufsehenerregenden Fall von “game awareness”: Sieg seiner Mannschaft in trockene Tücher gebracht, aber Fantasy-Owner mit dem verschenkten Touchdown gegen sich aufgebracht.
Der Touchdown als Wegbereiter
Diesmal war Gurley der Buhmann. Wenn ihm niemand im Coaching-Staff verbot, zum Touchdown durchzulaufen, war es ein schwerer Coaching-Fehler. Doch wahrscheinlicher ist, dass Gurley lief, vom Verteidiger getackelt wurde, im Affekt seinen Hebel einsetzte und dann überrascht davon wurde, dass der (von Matt Patricia exzellent eingestellte) Gegner plötzlich losließ. Einen besseren Defense-Fake konnte man sich nicht ausmalen. Jedes absichtliche Ausstellen der Defense wäre einfach zu durchschauen gewesen.
Letztlich war das Versagen der Defense bzw. das sehr präzise Offense-Gespann der Lions mit Stafford, TE T.J. Hockenson und WR Kenny Golladay noch entscheidender für den Lions-Sieg als Gurleys versehentlicher Touchdown. Doch was diese Situation machte, war, das Comeback überhaupt erst zu ermöglichen.
Es war der erste absichtlich in den letzten zwei Minuten zugelassene Touchdown einer Defense, der den Weg zum Sieg für die eigene Mannschaft ebnete. Vorangegangene Fälle wie die Patriots in oben angesprochener Super Bowl, oder die Patriots im AFC-Finale 2006/07 gegen Peyton Manning, oder die Packers in der Super Bowl 1998 gegen die Denver Broncos, endeten alle trotzdem in einer Niederlage. Doch dass die Lions den entscheidenden Touchdown zum 23-22 schafften, macht die Entscheidung selbst, den Gurley-Touchdown aufzugeben, gar nicht viel besser oder schlechter. Die Entscheidung war immer die richtige, und sie zeigte vernünftiges strategisches Game-Management bei einem oft kritisierten NFL-Coach.
Vrabel verrennt sich in seinem Gameplan
Die Titans empfingen die Steelers zum Duell zwischen zwei der letzten Ungeschlagenen in der NFL. Dabei wollen wir zunächst einen Blick auf das Matchup der Steelers-Offense gegen die Titans-Defense werfen. Vrabel entschied sich, Malcolm Butler konsequent auf Chase Claypool anzusetzen, der diesen auch realtiv zuverlässig abmeldete. Dahinter wurde es problematisch. Wegen Verletzungssorgen musste Tye Smith als Outside-Corner gegen Diontae Johnson und Oldie Jonathan Joseph im Slot gegen JuJu ran. Beides keine vorteilhaften MatchUps für Tennessee. Bis hierhin aber nichts, an dem Mike Vrabel etwas hätte andern können.

Ein Offenbarungseid in der ersten Halbzeit
Die Probleme offenbarten sich aber gleich im ersten Drive der Steelers. Vrabel ließ Smith und Joseph auf verlorenem Posten alleine gegen die Steelers-Receiver stehen. Statt den Cornern durch das Scheme zu helfen, gab Vrabel Big Ben mit seinen Defense-Calls ein ums andere Mal einfache Reads, Completions und First Downs. Dementsprechend sieht das Passing Chart von Ben Roethlisberger auch aus, der Großteil seiner Würfe ging auf seine linke Seite, wo Johnson Smith immer wieder an der Nase herum führte.
Dazu kam, dass die Titans ihrem Ruf als mit Abstand schlechteste Third-Down-Defense alle Ehre machten. In der ersten Hälfte ließ man Conversions aus folgenden Distanzen zu: 3, 11, 1, 14, 1 und 12 Yards. Erst spät im zweiten Quarter folgte der erste Stopp der Titans-Defense bei 3rd & 5. Bei fast allen dieser zugelassenen Conversions konnte man das Gleiche beobachten: eine Cover-3-Variante, 4-Men-Passrush, easy Conversion für Ben. Konsequenterweise lag man mit 17-7 zurück.
Kurz vor der Two-Minute-Warning bekamen die Titans den Ball an der eigenen 10-Yard-Linie. Was dann folgte, glich beinahe einer Kapitulation. Nachdem Derrick Henry bis dato überhaupt nicht ins Rollen kam und man wegen des 10-Punkte-Defizits damit rechnete, dass die Titans auf Tannehill vertrauen würden, um vor der Halbzeit heranzukommen, gab Vrabel Henry erneut den Ball auf First Down: Tackle for Loss von T.J. Watt. Doch statt sich zu beeilen, ließ man die Play Clock vollständig runterzulaufen, ging in die Two-Minute-Warning und kam mit einem weiteren Run auf 2nd & 14 aus selbigem heraus. Eine Incompletion und einen Punt-Return später standen die Steelers schon wieder an der 17-Yard-Linie der Titans. Es folgte der Touchdown zum 24-7 Halbzeitstand. Es sind diese kleinen Dinge, die in einer derart engen Liga wie der NFL am Ende über Sieg oder Niederlage entscheiden können.
Ein bisschen Wiedergutmachung in Halbzeit zwei
In der zweiten Halbzeit wurde es dann zumindest defensiv besser. Die Titans wurden kreativer, blitzten Roethlisberger häufiger und brachte ihn zumindest ein wenig zum Nachdenken. Außerdem gelangen noch zwei Interceptions nach Deflections. Offensiv blieb es zunächst viel Stückwerk und man hoffte so sehr weiter auf den langen Henry-Lauf, dass man gar auf 2nd & 17 noch Runs spielen ließ – mit einem 20 Punkte-Defizit wohlgemerkt. Obwohl den Steelers Slot-Corner Mike Hilton gegen Adam Humphries und Mike-Linebacker Devin Bush gegen Tight End Jonnu Smith fehlten, weigerte Tennessee sich, diese durchaus vorteilhaften Matchups auszunutzen.
Am Ende vergab Kicker Stephen Gostkowski das Field Goal zur Overtime und die Titans kassieren die überaus verdiente erste Saisonniederlage. Großen Anteil daran hat der miserable Gameplan auf beiden Seiten des Balles. Lernen die Titans ihre Lektion oder limitieren sie sich weiterhin selbst?
Steht ja oben @euterpe: Jedes weitere Yard Raumgewinn für die Falcons hätte ihre Sieg-Wahrscheinlichkeit um ca. 1% erhöht. Durchaus sinnvoll, darauf zu gehen statt abzuknien.
Was mich interessieren würde: Woher habt ihr die Zahlen für die Sieg-Wahrscheinlichkeit für die Lions NACH dem Touchdown von Gurley. Die 15-20% (Gegner-adjustet sogar 30-40%) scheinen mir doch sehr hoch. Spiegeln die Modelle das wider?
Grob 60-65 Sekunden vor Schluss und ohne Timeouts bei Rückstand gelangen in den letzten Jahren ligaweit grob 10-15% der Offense-Drives zum Touchdown.
Das ist ein Mittelwert, durchschnittliche Offense gegen durchschnittliche Defense. Eine Stafford-Offense hat in solchen Situationen vielleicht leichte Vorteile, einfach weil der Quarterback jeden Wurf machen kann. Und über die Falcons-Defense wissen wir eh bescheid.
Scherzhaft könnte man sagen, Wahrscheinlichkeit ist dann 100%. Aber wahrscheinlich ist es näher bei irgendwo zwischen 20% und 30%. Adjustment ist ein reiner Schätzwert, weil es zu wenig ernsthafte Testmenge gibt.
RE: “scheinen sehr hoch”. Nicht vergessen: Offenses spielen in solchen Momenten hohes Risiko und mit allen 4 Downs. Defenses sind nur mehr darauf bedacht ja nicht das Big-Play zuzulassen und spielen Prevent-Defense. Die “prevented” dann oft genug den eigenen Sieg.
Ich frage mich warum ATL mit 01:12min auf der Uhr überhaupt noch ein Play gecalled hat. Sie hätten doch einfach abknien können – zumindest einmal. Nach 40sec hätte man ja wenn man dem eigenen Kicker nicht ganz traut ja dann noch ein Running-Play callen können (ATL hatte noch ein Timeout).
Murphys law par excellence für die Falcons.
Ich glaube, das hätte Atlanta nach dem nächsten Snap auch gemacht. Ob sie zuerst abknien oder danach hat keine Auswirkung. Wichtig war wie oben gesagt:
– kein Holding
– kein Fumble
– kein Touchdown
Alle drei Prämissen hätten sich recht leicht umsetzen lassen sollen.