Beginnen wir diese neue Rubrik “Coaches Corner” mit einem kurzen Prolog.
Florian und Thomas wollen jede Woche auf Entscheidungen der Coaches zurückblicken, die das Spiel maßgeblich beeinflusst haben. Dies können Spitzfindigkeiten im Regelwerk, der Umgang mit Timeouts und eben vor allem anderen die getroffenen Entscheidungen auf 4th Down sein. Elementar ist dabei die sogenannte Win Probability (WP; Siegwahrscheinlichkeit). Vor jedem Spielzug lässt sich schätzen, wie wahrscheinlich der Sieg für das in Ballbesitz befindliche Team ist. Wiederholt man dies nach dem Play, ist die Veränderung der Siegwahrscheinlichkeit messbar. Diesen gemessenen Wert nennt man Win Probability Added (WPA).
Wer sich gerne mit Zahlen beschäftigt, der dürfte an dieser Stelle hellhörig werden. Die WPA erlaubt es uns, Gedankenspiele zu machen: Was wäre, wenn der Coach zum Beispiel das 4th Down ausgespielt hätte? Um dies zu bewerten, müssen wir zusätzlich noch überlegen, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Team ein neues First Down erzielt. In grafischer Darstellung sieht das Ganze so aus:

Die Win Probability für “Go” errechnet sich dabei wie folgt: 64,34% * 85,21% + 35,66% * 74,29% = 81,31%. Analog erhält man die WP für den Field-Goal-Versuch. Soweit zur Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Elementar für diese Rechnung ist die geschätzte Wahrscheinlichkeit, ein neues First Down zu erreichen. Wir nutzen für diese Serie das 4th-Down-Modell von Ben Baldwin, welches diese Wahrscheinlichkeit für uns berechnet. Dabei werden Faktoren wie Distanz zum 1st Down, Spielstand, Spiel-Uhr und die Erwartungswerte der Alternativen (Punt, Fieldgoal) berücksichtigt.
Viele Situationen sind nicht eindeutig, und je knapper die Differenz zwischen den einzelnen Optionen, desto umstrittener die Entscheidung. Gerade bei knappen Situationen ist Vorsicht in der Bewertung ratsam. Je deutlicher die Differenz zwischen den Optionen ist, umso sicherer kann man sich jedoch sein, dass die vom Modell favorisierte Variante tatsächlich die bessere Option gewesen wäre. So viel zur Theorie.
Zac Taylor lässt Randy Bullock kicken
Kommen wir zur ersten Situation vom vergangenen Spieltag. Die Cincinnati Bengals von Head-Coach Zac Taylor sind bei den Indianapolis Colts zu Gast. Die Bengals gehen als Underdog ins Spiel, starten aber wie von der Tarantel gestochen und führen noch im ersten Quarter mit 21:0. Danach lässt die Offense nach und lässt die Colts zurück ins Spiel. Mit noch 8 Minuten im letzten Viertel auf der Uhr liegt man schließlich mit 27:28 zurück und spielt sich endlich noch einmal in die Hälfte der Colts. An der 30-Yard-Linie kommt der Drive ins Stocken: Vierter und 1, die Colts-29 ist das Ziel. Zac Taylor schickt Randy Bullock aufs Feld und lässt ein 47 Yards Field Goal versuchen.

Nicht, dass das schon schlimm genug wäre: Es wäre cleverer gewesen, das 4th Down auszuspielen. Nein, zu allem Überfluss verschießt Bullock das Field Goal, die Colts bekommen den Ball an der eigenen 37 und ihrerseits die Chance, das Spiel zu entscheiden. In Zahlen ausgedrückt sieht die Entscheidung von Coach Taylor dann so aus:
Ganze 4.4% Siegwahrscheinlichkeit hat der Bengals-Head-Coach hier liegen lassen. Eine Entscheidung, die maßgeblich zu der 27:31-Niederlage beitrug. Hätten die Bengals den Drive am Leben erhalten und gar einen Touchdown erzielt, mit Two-Point-Conversion hätte eine 7-Punkte-Führung gewinkt. So kassierte man ein Field Goal von Rodrigo Blankenship und lief fortan einem Vier-Punkte-Defizit hinterher, welches man im letzten Drive des Spiels dann nicht mehr wettmachen konnte.
Crennels Aggressivität wird belohnt…
…zumindest in der spezifischen Situation. Das Spiel Titans – Texans war in vielen Coaching-Entscheidungen eines der interessantesten der bisherigen Saison. Texans-Head-Coach Romeo Crennel hatte im Schlussviertel mehrere interessante Entscheidungen:
- Er spielte im letzten Drive seiner Texans zweimal ein 4th Down & 1 aus
- Er spielte nach dem TD zum 36:29 eine Two-Point-Conversion aus.
Über letztere Situation kann man endlos streiten, aber Punkt ist: Analytisch betrachtet gibt es dafür keine eindeutige Empfehlung. Bei den beiden 4th Down Entscheidungen war das anders. Schauen wir uns die erste davon an.
Die Situation: 4th & 1 von 35-Yards-Line der Titans. Houston führt 4:37 Minuten vor Schluss mit 30:29. In so einer Situation ließen NFL-Coaches in der mehr als fünf Jahre zurück liegenden Vergangenheit zumeist Field Goal schießen. Doch in den letzte Jahren haben diese Coaches viel Neues gelernt. Auch Romeo Crennel. Er ging aufs Ganze – die absolut richtige Entscheidung:

Ein erfolgreiches Ausspielen dieser Situation bedeutet nicht nur, dass die Offense den Ball behält, sondern auch, dass sie weiter Zeit von der Uhr nehmen kann (in der Schlussphase eines Spiels mit knapper Führung im Rücken sehr bedeutend) und natürlich, dass sie die Chance auf den Touchdown behält.
Doch es gibt noch einen zweiten Grund, warum Ausspielen von kurzen 4th Downs eine umso eindeutigere Entscheidung ist, je mehr wir uns in der “neutralen Zone” zwischen 30 und 50 Yards von der Endzone entfernt aufhalten: Ein Field Goal aus dieser Distanz ist keine sichere Sache. So gut die Kicker mittlerweile geworden sind: Von der 35-Yards-Line zu kicken bedeutet 53-Yards-Field-Goal. Das wird “nur” in 59% der Fälle überhaupt verwertet. Ein 4th & 1 glückt der durchschnittlichen NFL-Offense in dieser Zone dagegen in 72% der Versuche!
Zu kicken bedeutet von 1 Punkt auf 4 Punkte Vorsprung zu erhöhen – aber mit geringerer Sicherheit als das 4th Down zu verwerten und damit die Chance auf 7 oder gar 8 Punkte zu bewahren und zusätzlich Zeit von der Uhr zu nehmen. Und noch etwas: 41% Gefahr das Field Goal zu verschießen bedeutet auch, in 4 von 10 Fällen der gegnerischen Offense um Ryan Tannehill den Ball an deren eigener 43-Yards-Line zu übergeben. Wir sprechen in dieser Situation also nicht bloß über Punkte, sondern auch über Feldpositionskampf.
Somit sprechen alle Indizien dafür, dass der Texans-Coach korrekt entschieden hat. Er machte es später noch einmal richtig, als er von der 1-Yards-Line das 4th & Goal ausspielen ließ. Doch so merkwürdig das klingen mag: Das war eine knappere Entscheidung als jene von der 35-Yards-Line in der neutralen Zone des Spielfelds die Offense am Feld zu lassen. Fazit: An Crennels 4th-Down-Entscheidungen lag es bestimmt nicht, dass Houston am Sonntag die fünfte Niederlage im sechsten Saisonspiel kassierte.