Coaches Corner – NFL Woche 8

NFL aus der Perspektive der Head Coaches: Spannende In-Game-Entscheidungen vom 8. Spieltag der Saison 2020/21 unter der Lupe!

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Lesezeit: 5 Minuten

In der letzten NFL-Woche haben wir – das sind Thomas und Florian – für euch auf das bizarre Ende bei Lions @ Falcons und den miserablen Gameplan der Titans gegen die Steelers geschaut. Auch in dieser Woche gab es wieder eine Vielzahl an spannenden Szenen und Coaching Entscheidungen, von denen wir zwei genauer unter die Lupe nehmen wollen.

Florian beschäftigt sich mit einer kuriosen Sequenz aus dem Sunday-Night-Game zwischen Eagles und Cowboys, während Thomas versucht aufzuzeigen, dass es auch mitten in einem Spiel, wenn NFL-Redzone-Kanal und Highlight-Tapes wegschalten, verblüffende Optimierungsmöglichkeiten gibt.

Mike McCarthy’s tiefer Griff in die Trickkiste

Die Cowboys trafen im Sunday-Night-Game kurz vor Schluss eine äußerst kuriose Entscheidung, indem sie bei 12 Punkten Rückstand einen absichtlichen Safety verursachten, weil sie sich so mehr Chancen auf den Sieg ausrechneten als Quarterback Ben DiNucci ein 4th & 17 versuchen zu lassen. Aber der Reihe nach.

Incompletion, Delay of Game, Safety, “Onside-Punt”

Auf 3rd & 17 versucht Notfall-Quarterback Ben DiNucci die Cowboys wieder ins Spiel zurückzuführen. Sein Pass auf Cedrick Wilson wird fast intercepted, fällt dann aber doch zu Boden. 4th & 17 von der eigenen 16, die Eagles führen mit 21-9. Mike McCarthy schickt sein Punt-Team aufs Feld, um den Ball zu den Eagles zu punten. Manch einer mag die Entscheidung, hier zu punten bereits als Kapitulation werten.

Es herrscht Verwirrung, Whitehead Jerome Boger flaggt Punter Chris Allen mit einem Delay of Game. Nun also 4th Down, 22 Yards zu gehen. Special-Teamer Saivion Smith rennt auf den Platz und gibt dem Long-Snapper ein Zeichen. Er gestikuliert in Richtung der eigenen Field-Goal-Stangen und rennt wieder vom Feld. Das Punt-Team macht sich bereit und Cowboys-Longsnapper Louis-Philippe Ladouceur snappt den Ball meterweit über den Kopf von Punter Chris Jones. Der Ball fliegt im hohen Bogen hinten aus der eigenen Endzone – Safety, 14 Punkte Führung für die Eagles. Siehe hier:

Es folgt der obligatorische Punt zum Gegner von der eigenen 20. Dieser hält jedoch einen kleinen Twist parat: Kicks nach einem Score sind Free Kicks. Das bedeutet, sobald der Ball 10 Yards zurückgelegt hat, ist er live und kann von beiden Teams erobert werden. Punter Chris Allen produziert eine Kerze, auf die jeder Kreisliga-C Verteidiger stolz wäre, und der Ball kommt an der eigenen 45 herunter, zwei Cowboys sind als erste zur Stelle, am Ende recovern aber die Eagles den Ball und das Spiel ist so gut wie vorbei.

Mich fasziniert hier dennoch die Kreativität des Dallas-Coaching-Staffs. Ein absichtlicher Safety ist keine Novelle mehr und wurde bereits mehrmals von Teams genutzt, um die letzten paar Sekunden eines Spiels von der Uhr zu nehmen. Dass aber ein Team in Rückstand den absichtlichen Safety nimmt, ist sehr selten.

Ein Beispiel aus der Vergangenheit

Ein berühmtes Beispiel, ja fast eine Art Präzedenzfall hat – natürlich – Bill Belichick Anno 2003 bei den Denver Broncos geliefert, als er mit einem Punkt Rückstand kurz vor Schluss einen Safety kassierte um mit 3 Punkten Rückstand, aber viel besserer Feldposition, den Ball wegzutreten. Die Pats erzwangen damals den schnellen Defensive-Stop, glichen aus und gewannen schließlich in Overtime.

Die Entscheidung der Cowboys war nicht von so großem Erfolg gekrönt, und sie zeigt wohl auch das geringe Vertrauen von McCarthy in NFL-Rookie Ben DiNucci. Zugegeben: Vollkommen zurecht nach dessen dürftiger Vorstellung!

Was sagen die Zahlen?

Schauen wir aber einmal auf die Zahlen hinter dieser Entscheidung. Ben Baldwins 4th Down Modell gibt den Cowboys eine 3%-Chance auf den Sieg, wenn das 4th & 17 gelingt. Scheitert es, bewegt sich die Siegwahrscheinlichkeit irgendwo nahe 0%. Darüber hinaus gibt das Modell den Cowboys eine 10%-Chance, das 4th Down auch tatsächlich zu verwerten. Unterm Strich hat die Entscheidung also eine Siegwahrscheinlichkeit von unter 0,3%.

Stattdessen wählt man die Variante über den Safety-Free-Kick. Die Wahrscheinlichkeit, den Ball nach dem Kick zu erobern dürfte in etwa bei 50% liegen, denn letzten Endes lässt sich der Bounce bei einem solchen Kick nicht wirklich kontrollieren. In wessen Hände er dann fällt, ist schlicht Glück. Recovern die Cowboys den Ball an der 45 liegt ihre Siegwahrscheinlichkeit im nflfastR-Modell bei knapp über 3%. Recovern ihn die Eagles, liegt sie bei ungefähr 0,5%. Die erwartbare Siegwahrscheinlichkeit der Entscheidung liegt also bei knapp 1,8%.

Es sei angemerkt, dass derart marginale Unterschiede bei weitem kein klares Indiz dafür sind, dass McCarthys Entscheidung korrekt war. Dennoch mag ich die Entscheidung sehr, denn sollten die Eagles an den Ball kommen, ist das Spiel vorbei. McCarthy hat in dieser Szene diejenige Entscheidung getroffen, die seinem Team noch die größte von vielen kleinen Chancen auf ein neues First Down gewährte – auch wenn es am Ende nicht belohnt wurde.

Die kleinen Dinge von nebenan

Lass uns mal eine ganz gewöhnliche NFL-Spielsituation mitten im dritten Viertel anschauen: Die Indianapolis Colts waren bei den Detroit Lions zu Gast und führten zur Pause souverän 20-7, aber es hätte eine klarere Führung sein können, denn die Colts dominierten die Partie nach Belieben.

In der ersten Halbzeit machten die Colts in sage und schreibe 42 Offensiv-Plays 0.25 EPA/Play. Detroit? In der Hälfte der Spielzüge bei -0.30 EPA/Plays. Das eine wäre auf eine Saison gesehen die beste Offense der NFL. Das andere die schwächste, und das jeweils mit Abstand.

Doch dann legten die Lions direkt im ersten Drive nach der Halbzeit einen schnellen Touchdown-Drive zum 14-20 hin un verkürzten den Vorsprung auf weniger als einen Touchdown. Die Colts übernahmen wieder den Ball und rannten dreimal mit RB Jordan Wilkins hinein ins Herz der Lions-Defense: Rein in die Mitte, ums rechte Eck, wieder rein in die Mitte.

Es folgte 4th Down & 1 Yard to go an der Colts 38. Headcoach Frank Reich entschied sich ohne zu zögern für das Punten, und das Gros der Zuschauer hätte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich gebe zu: Im ersten Moment war mein Gedanke auch nicht “Ausspielen!”.

Aber genau dafür haben wir 4th-Down-Modelle um uns zu lehren was man vielleicht besser machen könnte. Sowohl Ben Baldwins brandneuer 4th-Down-Calculator (Bild siehe rechts) als auch das Modell von den mit sehr viel mehr Rechenpower ausgestatteten Kollegen von EDJ Sports sehen in dem Punt eine der größten Coaching-Fehlentscheidungen des achten NFL-Spieltags. Demnach hat Reich 3.8% bis 4% Sieg-Chance verschenkt, als er Philip Rivers und seine Offense vom Feld nahm.

Das Argument fürs Ausspielen

4% klingt erstmal nicht nach viel, doch NFL-Coaches bleiben nächtelang wach um nur ein Prozent zu finden. Den Ball in dieser unscheinbaren Situation wegzupunten ist erst einmal unscheinbar, aber dann wiederum müssen wir es uns von der anderen Seite aus ansehen:

  1. 1 Yard zu erzielen gelingt in mehr als 7 von 10 Fällen. So wie die Colts-Offense in dem Spiel bis dahin gerollt war, wirkt diese Chance niedrig angesetzt.
  2. Die Colts führten plötzlich trotz der krassen Dominanz in der ersten Halbzeit nur noch mit 6 Punkten und hatten die Lions gerade wieder zurück ins Spiel gelassen. Detroit direkt nach ihrem besten Drive wieder den Ball in die Hände zu punten? Not so nice.
  3. Punten in short yardage Situationen ist nur allzu häufig eine Taktik des Hinauszögerns, anstatt proaktiv sein Schicksal in die Hand zu nehmen.

Natürlich hätte es schiefgehen können und natürlich hätten die Colts dann den Lions schon recht nah an der viel beschworenen “Field Goal Range” (eben Colts 38) den Ball zurückgegeben. Aber das ist den Zahlen nach zu urteilen ein insgesamt kleineres Risiko als der Lions-Offense freiwillig den Ball in etwas schlechterer Feldposition zurückzugeben. Die NFL 2020 ist eine Offense-Liga. Ballbesitz ist wichtiger als Feldposition.

Dass die Colts letztlich trotzdem locker gewannen, tut bei dieser Entscheidung erstmal nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass wir versuchen uns zu öffnen und auch ein Gefühl für solche gern übersehenen Spielsituationen fernab der NFL-“Witching Hour” zu entwickeln. Es gibt auch dort Optimierungspotenzial!

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Florian Schmitt
Passionierter Titans Fan und Lead Blogger der ersten Stunde. Analytics-Nerd und Liebhaber des Passing Games. Fantasy Football Enthusiast und Graphics-Guy.
Thomas Psaier
Football-Blogger seit 2010. Allesfresser in NFL und College Football.

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