Coaches Corner – NFL Woche 10

NFL aus der Perspektive der Head Coaches: Spannende In-Game-Entscheidungen vom 10. NFL-Spieltag der Saison 2020/21 unter der Lupe!

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Nach Rohrkrepierer Kliff Kingsbury und einem Blick auf das mutlose Texans Punt Team in der letzten Woche gibt es auch diese Woche wieder zwei Szenen, die die besondere Aufmerksamkeit von Thomas und Florian geweckt haben. Zum einen geht es um den Versuch der New York Giants, Offsides bei kurzen 4th Downs zu schinden. Zum andern ist da die Entscheidung von Mike Zimmer, mit zwei Timeouts und knapp einer Minute auf der Uhr in die Halbzeit zu gehen. Mit dieser legt Florian heute vor.

Die antiquierte Denkweise des Mike Zimmer

Das Monday Night Game in Woche 10 war wirklich nicht schön anzusehen, wenn man nicht gerade ein Fan von Running Game und guter Defense ist. Spektakel? Fehlanzeige. Head Coach Mike Zimmer ließ seinen Running Back Dalvin Cook wieder und wieder und wieder in eine gut sortierte Run Defense der Bears laufen. Am Ende stehen bei 30 Laufversuchen weniger als 100 Yards zu Buche. Und das, obwohl Cousins mit knapp 8 Yards pro Passversuch einen durchaus brauchbaren Abend erwischte und dem viel beschworenen Primetime-Lampenfieber trotze.

Warum nicht gleich abknien?

Der Gipfel der Verweigerung des Vikings-Head-Coaches trug sich kurz vor Ende des zweiten Quarters zu. Die Bears hatten sich gerade mit Mühe und Not das Feld heruntergequält und ein Field Goal zum 6-7 verwandelt. Der folgende Kickoff flog in die Endzone, Touchback, Ball Minnesota. 54 Sekunden, 2 Timeouts, Ball an der eigenen 25 und knapp 40 Yards zur Field-Goal-Range.

Wer nun jedoch damit rechnete, dass Zimmer Cousins von der Cook-Leine lassen würde, rieb sich verwundert die Augen. Statt – mit dem Wissen im Hinterkopf, dass die Bears den Ball zu Beginn von Quarter 3 bekommen würden – aggressiv auf einen Score vor der Halbzeit zu spielen, folgte diese Sequenz:

  • (:49) (Shotgun) D.Cook right guard to MIN 25 for no gain (K.Mack).
  • (:06) (Shotgun) D.Cook left guard to MIN 25 for no gain (M.Edwards).

Etwas provokativ stelle ich hier die Frage: Warum denn nicht gleich die weiße Fahne schwenken und abknien? Wenn man schon nicht scoren möchte, sollte man das Risiko eines Turnovers doch besser gar nicht in Kauf nehmen! Schauen wir auf die Zahlen hinter dieser Entscheidung.

Zwei aus Zehn!

Ben Baldwin und Sebastian Carl – die Köpfe hinter nflfastR – haben ein Model entwickelt, das vor jedem Play bestimmt, wie wahrscheinlich welches Scoring-Ereignis bis zum Ende der Hälfte ist. Schauen wir in diese Daten, sehen wir folgendes Bild:

Kein Score70.3%
Touchdown Vikings4.8%
Field Goal Vikings15.6%
Safety Vikings0%
Touchdown Bears3.7%
Field Goal Bears5.4%
Safety Bears0.1%

Auf “gut deutsch” heißt das grob gesagt, die Vikings hätten bei zwei von zehn Versuchen gescored, bei einem von zehn hätten die Bears vor der Halftime noch einmal gepunktet und bei sieben von zehn hätte es keinen Score mehr vor der Hälfte gegeben. Mit dem Bears-Ballbesitz nach der Hälfte im Gedanken darf es hier eigentlich nur eine Entscheidung für die Coaches geben: Versuche zu scoren!

Natürlich kann man im Nachhinein sagen, es sei ja gut gegangen. Eine solche Szene im Nachhinein zu bewerten ist aber der falsche Ansatz – Stichwort hindsight bias. Die gefällte Entscheidung sollte immer auf Basis der zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Situationen bewertet werden. Und diese Informationen sprechen – zumindest aus mathematischer Perspektive – eindeutig gegen Zimmers Entscheidung.

Angsthasen und Wagemutige: Wie gehen die Coaches 2-Minute-Drills an?

Schauen wir über Minnesota hinaus: Welche Coaches sind die aggressivsten und welche verlässt kurz vor der Halbzeit der Mut? Würden wir nur auf Drives schauen, die mit maximal 60 Sekunden auf der Uhr starten, bekämen wir sofort Probleme mit einer sehr kleinen Sample Size je Team. Die ligaweite Passquote auf dem ersten Play des Drives unterscheidet sich aber kaum vom Ligaschnitt bei allen Drives mit maximal drei Minuten auf der Uhr (75% vs 71,5%). Also vergrößern wir unsere Sample Size, indem wir alle Drives betrachten, die mit maximal 180 Sekunden Restspielzeit starten. Wir suchen also Drives, die folgende Kriterien erfüllen:

  • Wahrscheinlichkeit eines eigenen Scores größer als 10%
  • Start des Drives innerhalb der eigenen 30
  • Start des Drives innerhalb der letzten 3 Minuten in der ersten Hälfte

Dabei schauen wir auf den ersten Playcall des Drives. Ist es ein Pass, nennen wir es aggressiv. Ist es ein Run, klassifizieren wir das als ängstlich.

Es sei an dieser Stelle vorweggesagt, dass die Sample Size hier natürlich ziemlich klein ist, da wir nur Drives kurz vor der Hälfte betrachten und es davon naturgemäß nicht übermäßig viele gibt. Dennoch lässt sich bei dem ein oder anderen Team und Coach eine Tendenz feststellen. Wenig überraschend finden wir unter den Teams, die eher mutlos auftreten jene Teams, die bisher nicht gerade durch offensive Feuerwerke überzeugen konnten.

Doch sind es grade diese Teams, die jede sich bietende Chance eigentlich nutzen sollten, um jede noch so kleine Möglichkeit auszuschöpfen. Natürlich geht ein solch aggressives Vorhaben auch einmal nach hinten los. Nicht umsonst schätzt das Modell der oben genannten Mathe-Genies die Chance auf einen Bears-Score vor der Halbzeit auf knapp unter 10%. Liegt die eigene Wahrscheinlichkeit jedoch höher, sollte in diesem Fall gelten: Process > Results!

Draw them offside?

Die New York Giants haben am Sonntag nicht nur mit ihrem Heimsieg über die Philadelphia Eagles überrascht, sondern auch mit einer ungewöhnlichen Taktik in 4th & short: Sie haben sich in gleich zwei 4th Downs mit 1 Yard to go mit ihrer Offense aufgestellt, um die Defense in Abseits zu locken. Beide Male endete es in demselben Bild:

NFL Gamepass

Play-Clock heruntergelaufen, Defense diszipliniert nicht ins Abseits gesprungen, 5 Yards Raumstrafe für die Offense wegen Delay-of-Game. In der Football-Fachsprache nennt man dieses Vorgehen der Offense „trying to draw the defense offside“ – die Defense versucht durch angetäuschten Ausspielversuch, billig ein neues 1st Down zu schinden. Es reicht dabei ein Verteidiger, der ins Abseits springt, um ein neues 1st Down zu erreichen.

Die Taktik lässt sich bis zu einem 4th&5 anwenden, doch Offenses versuchen sie fast nur bei 4th&1 Situationen, weil es keinen Moment im Football gibt, an dem die Defense aggressiver die Line of Scrimmage zumacht.

Offside-Locken in der Theorie

Und in einem Vakuum ist es gar nicht mal so eine schlechte Idee der Coaches: 5 Yards Raumstrafe (oder in der ersten Halbzeit ein verlorenes Timeout) sind ein geringerer Schaden als die Upside eines neuen 1st Downs. Je weiter entfernt die Offense von der eigenen Endzone ist, umso kleiner die Schmerzen, denn heutige Punter können das Ei locker aus der Hüfte 45 Yards downfield kicken. Hier und da ist es wegen verringerter Touchback-Gefahr sogar praktischer, „von weiter hinten“ zu punten.

Selbst Offenses, die ihr 4th Down ausspielen wollen, wären oft nicht schlecht beraten, mit dem Ausspielen zu warten, bis die Play-Clock auf den letzten Sekunden ist – mehr Zeit für die Defense, entscheidend zu zucken.

Doch auf der anderen Seite glücken gerade 4th&short Versuche mittlerweile in mehr als zwei Drittel der Fälle. Offenses wären wohl noch besser beraten, wenn sie einfach ohne Trick ausspielen und executen.

Offside-Locken in der Praxis

Schauen wir uns noch einmal die Giants an. Ihre beiden Versuche im Spiel gegen Philadelphia hatten beide leichte Präferenz fürs Ausspielen:

  • 1:17 Minuten vor der Halbzeit bei 4th&1 an der Eagles 44 mit 14-3 Führung (+0.1%)
  • 2:57 Minuten vor Ende des dritten Viertels bei 4th&1 an der eigenen 32 Yards Line bei 21-17 Führung (+2.0%)

Aus dem NFL Play-by-Play lässt sich nicht genau herauslesen, wie häufig Teams diese Strategie in 4th&1 versuchen. Dafür sind sowohl die Daten der Play-Clock als auch jene der Timeouts zu fishy. Aber es lässt sich sagen:

  • Nur zweimal sprang ein Team bei 4th&1 ins Abseits: In Woche 7 Demarcus Lawrence von den Cowboys gegen Washington und diese Woche die Chargers gegen Miami.
  • Achtmal beging die Offense ein False Start
  • Elfmal hingegen endete der Versuch im Delay of Game

Kein Team kassierte die Raumstrafe häufiger als einmal – außer die Giants, die gleich dreimal daran scheiterten, die Defense ins Abseits zu locken und 5 Yards wegen Delay of Game kassierten. Zweimal am Sonntag gegen Philly, einmal gleich im ersten Drive der Saison gegen Pittsburgh.

Prinzipiell gibt es also nur wenige praktische Anhaltspunkte dafür, dass Joe Judges Taktik sonderlich sinnvoll wäre. Willst du den Ball behalten, dann spiel das 4th Down ohne Mätzchen aus! Zu selten gibt es das Geschenk der Defense. Für den modernen Coach gilt, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

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