Couch Referee: Das Dilemma der Interpretation

American Football ist ein extrem komplexer Sport. Das spiegelt sich auch im Regelwerk wider. Die Schiedsrichter operieren deshalb oft in Grauzonen mit viel Spielraum für Interpretationen.

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Passives oder aktives Abseits im Fußball? Feste Verteidigungsposition im Basketball? In fast allen Sportarten müssen Schiedsrichter Entscheidungen treffen, welche einen gewissen Interpretationsspielraum bieten. Wegen seiner Komplexität verlangt jedoch kaum ein Sport von seinen Schiedsrichtern so viele Interpretationen wie American Football. Es ist also logisch, dass Woche für Woche über die unterschiedlichsten Auslegungen der Crews diskutiert wird.

Richtige Interpretation bei Pass-Interference?

Keine Strafe stand in den letzten Jahren so sinnbildlich für den großen Spielraum für Interpretationen bei Referee-Calls wie die Pass-Interference. Auch am vergangenen Spieltag wurden wieder zwei mit spielentscheidende Entscheidungen zu diesem Foul kontrovers diskutiert.

Antoine Winfield jr. gegen Dion Lewis:

Anthony Harris gegen Robert Tonyan:

In beiden oben gezeigten Situationen wurde zunächst eine Flagge geworfen. Nach Diskussionen mit der Crew nahmen die Schiedsrichter die Strafe zurück. In beiden Fällen wird der Receiver am Fangprozess durch Kontakt behindert. Allerdings haben beide Verteidiger den Blick auf dem Ball. Die wichtigste Frage in beiden Fällen ist der Zeitpunkt des Kontakts.

Bei Winfield bin ich persönlich auf der Seite der Crew. Ja, in der Zeitlupe wirkt es so, dass Winfield Lewis kurz bevor der Ball kommt berührt. In der Realgeschwindigkeit ist das jedoch kaum zu erkennen. Man spricht hier von einem Bang-Bang-Play. Wenn in der realen Geschwindigkeit nicht auszumachen ist, ob der Defender zu früh kommt, sollte kein Foul gegeben werden.

Bei der Situation von Harris sehe ich die Interpretation der Schiedsrichter etwas skeptischer. Harris schlägt die Arme von Tonyan sichtbar runter, bevor der Ball kommt. Diese Flagge hätte man nicht aufheben müssen.

Die Entscheidung, zunächst eine Flagge zu werfen, war jedoch in beiden Fällen gut. Das gibt der Crew die Chance, die Entscheidung nochmal mit den Kollegen zu besprechen. Bei so knappen Entscheidungen, die in beide Richtungen interpretiert werden können, ist das die richtige Vorgehensweise. Flaggen später wieder zu annullieren, ist kein Zeichen für fehlende Souveränität.

Hit gegen Humphries illegal?

Auch die NFL-Interpretation der Targeting-Regel sorgt bei Spielern, Coaches, Medienvertretern und Fans immer wieder für Kopfzerbrechen. Am vergangenen Spieltag lieferte Jessie Bates mit seinem Hit gegen Adam Humphries ein neues Beispiel. Selbst zwischen den Schiedsrichtern und der Liga bestand offensichtlich keine Einigkeit. Während die Crew auf dem Feld keine Flagge warf, brummte die Liga dem Bengals-Safety eine Geldstrafe auf.

Wegen der hohen Verletzungsgefahr müssen Hits gegen den Kopf von verteidigungslosen Spielern grundsätzlich streng bestraft werden. In diesem Fall war die Entscheidung der Schiedsrichter jedoch vertretbar. Jessie Bates trifft Humphries zwar am Kopf. Allerdings stoppt Bates vor dem Einschlag gut sichtbar ab. Er versucht sogar dem Kontakt auszuweichen. Ein strafbarer Hit wird im Regeltext als “gewaltsam” (engl. “forcible”) definiert. Auf einen ausweichenden Spieler trifft das nach meiner Definition nicht zu.

Spielraum für Interpretation bei Wilson-Slide?

Besonders bei mobilen Quarterbacks ärgern sich Defender oft über zu spät rutschende Quarterbacks. Oft können die Spielmacher so Strafen provozieren. Die Regeln sehen grundsätzlich keine Strafe vor, wenn der Verteidiger sich bereits in der Tackling-Bewegung befindet, bevor sich der Quarterback selbst aufgibt. Dennoch hatten die Schiedsrichter in diesem Fall keinen Spielraum für Interpretationen. 49ers Safety Jimmie Ward trifft Russell Wilson gut sichtbar am Kopf. Das Regelwerk sieht bei Hits gegen den Kopf eines rutschende Quarterbacks unabhängig vom Timing eine Strafe vor. Somit hatten die Schiedsrichter keine andere Wahl.

Catch oder kein Catch?

Nach jahrelangen Diskussionen hat die NFL in der Off-Season 2018 ihre umstrittene Catch-Regel geändert. Dadurch definiert die neue Interpretation der Regel einen vollständigen Pass-Fang mit drei klaren Kriterien. Der Passempfänger muss Kontrolle über den Ball erlangen, dabei mit beiden Füßen oder einem anderen Körperteil (außer der Hand) den Boden innerhalb des Spielfeldes berühren und einen so genannten Football-Move ausführen.

In diesem Beispiel führt Jarvis Landry die ersten beiden Kriterien gut aus. Der Browns-Receiver erlangt Kontrolle über den Ball und berührt innerhalb des Feldes mit diversen Körperteilen den Boden. Jedoch verliert er bei dem Versuch, den Ball an sich heran zu ziehen, die Kontrolle über das Spielgerät. Als die Spitze des Balles den Boden berührt, hat Landry seine Hände nicht unterhalb des Balls. Einen Football-Move schloss er somit nicht ab. Die Video-Schiedsrichter verweigerten deshalb zurecht die Anerkennung des Touchdowns.

Eagles-Touchdown irregulär?

Einen recht chaotischen Touchdown bot die Begegnung zwischen den Philadelphia Eagles und den Dallas Cowboys. Zunächst nahm nach einem Fumble von Quarterback Ben DiNucci Vinny Curry den Ball auf. Nachdem er diesen wieder verlor, trug sein Teamkollege Rodney McLeod den Ball in die Endzone der Cowboys.

Im Clip sieht man jedoch deutlich, dass die Cowboys Curry nach nach seiner Ballaufnahme berührten. In diesem Moment hätte der Spielzug beendet werden müssen. Die Schiedsrichter entschieden stattdessen, dass der Defensive Lineman der Eagles den Ball nie vollständig unter Kontrolle und somit in Besitz hatte. Da aber bereits das Heranpressen des Balles an das eigene Bein als Kontrolle zählt, war die Entscheidung auf dem Feld falsch. Trotz einer automatischen Review gaben die Schiedsrichter dennoch den Touchdown.

Den Video-Schiedsrichtern kann man trotzdem wenig vorwerfen. Man muss zwar annehmen, dass Curry den Ball unter Kontrolle hatte. Allerdings kann man den Ball zwischenzeitlich in den Wiederholungen nicht sehen. Ein eindeutiger Beweis für den Ballbesitz ist somit durch die Wiederholungen nicht zu erbringen. Deshalb änderten die Video-Referees den Call auf dem Feld nicht.

1 KOMMENTAR

  1. Re: verzögerter Slide von Russel Wilson: ich stimme völlig zu, dass es für die Refs hier keinen Spielraum gibt. Allerdings ist mir die Regel da zu einseitig für die Offense – würde da gern einen Hinweis oder ne Klausel sehen, die den QB zwingt, den Slide durch zu ziehen. Zögern von Seiten des QB bedeutet aus meiner Sicht, dass er versucht, noch mehr Yards rauszuholen – dafür würde ich ihn hitten…

    Eine sehr ähnliche Problematik sehe ich außerdem beim Tackling an der Außenlinie: auch hier sind die Regeln so, dass sich der Offensivspieler aussuchen kann, was er macht. Kommen an der Außenlinie zwei gegnerische Spieler aufeinander zu und der Offensive deutet an, out of bounds zu gehen, muss der Defensive Tempo rausnehmen oder “am Gegner vorbei zielen”, um keine Unnecessary Roughness Flagge wegen “Late Hit out of bounds” zu kassieren. Erkennt der Offensivspieler dies zügig, kann er allerdings in bounds bleiben und Gas geben, so kann er den zurückziehenden Defensivspieler u.U. trucken und weitere Yards machen. Da kommt man als Defender in ein Dilemma, bei dem man nur verlieren kann: zieht man zurück, kann man getrucked werden. Zieht man durch, kassiert man wahrscheinlich eine Strafe. Mir ist bewusst, dass sowas zum Glück gar nicht soo häufig vorkommt. Vom Gefühl her würde ich aber behaupten, dass ich solche Situationen schon mindestens 1x pro Spieltag beobachten kann.

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